H. Traub: Philosophie und Anthroposophie

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Titel
Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners


Autor(en)
Traub, Hartmut
Erschienen
Stuttgart 2011: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
1040 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Helmut Zander, Institut für Geschichtswissenschaften, Wissenschaftsgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Auf dieses Buch – das eigentlich aus zwei Büchern besteht, davon gleich mehr – haben wir lange gewartet: eine Analyse der philosophischen Schriften Rudolf Steiners (1861– 1925), bevor er 1900 Theosoph wurde. Die Studie ist in ihrem zentralen Bereich eine ausgezeichnete Arbeit: historisch-kritisch, mit dichten Analysen, teilweise Kapitel für Kapitel an den Hauptwerken Steiners entlanggehend, mit dem Blick auf das Netz philosophischer Literatur, mit der sich Steiner auseinandersetzte. Sie ist damit augenblicklich das Referenzwerk für die Beschäftigung mit diesem Thema.

Im Zentrum steht Traubs These, dass sich Steiners philosophische Reflexionen im Kern als Auseinandersetzung und Fortschreibung des Werkes von Johann Gottlieb Fichte, namentlich seiner «Wissenschaftslehre», deuten lassen. Insbesondere in Steiners Dissertation, veröffentlicht unter dem Titel «Wahrheit und Wissenschaft» (1892), sowie in der «Philosophie der Freiheit» (1893) entwickelte Steiner ein monistisches Konzept mit einer unabgegrenzten Erkenntnis in Anlehnung an Fichte. Diese historiographische Perspektive ist nicht neu, aber Traub dokumentiert sie in einer Intensität, sowohl textkritisch als auch ideengeschichtlich, dass dadurch das Koordinatensystem von Steiners philosophischer Welt neu gezeichnet wird. Die Verflechtung seiner Theoriebildung wird in bislang unbekannter Weise sichtbar. Meines Erachtens sind wichtige Folgerungen Traubs, die Steiners philosophiehistorische Einordnung revidieren, zutreffend: etwa die Kritik an der zentralen Herleitung von Steiners philosophischen Anschauungen aus der Rezeption naturphilosophischer Schriften Goethes, die insbesondere im anthroposophischen Milieu dominiert. Wenngleich Traub die Rolle der gleichwohl vorhandenen Einflüssen Goethes und damit einer möglichen (und punktuell notwendigen) Relativierung seiner These nicht diskutiert, scheint mir seine Fokussierung auf Fichte im Kern zutreffend. Steiners Konstruktionslogik zerpflückt Traub mit teilweise scharfen Formulierungen: Von der Aussage, dass Steiner seinen zentralen Gegner, Kant, nicht verstanden habe, über den Hinweis auf eine unsystematische oder widersprüchliche Gedankenführung bis zu dem kaum verhohlenen Vorwurf des Plagiats (460) reichen seine m. E. begründeten Kritiken. Und im Blick auf Steiners Revisionen seiner eigenen Werke während des Ersten Weltkriegs, also in der anthroposophischen Zeit, dokumentiert Traub zudem, wie Steiner seine Texte durch eine «retrospektive Interpretation» (216, 218) manchmal fast bis in ihr Gegenteil uminterpretierte.

Angesichts dieser grossen Leistung gehören einige Fragen und kleinere Kritiken zu den Scharmützeln, die die weitere Forschung anregen können: War Dilthey wirklich wichtig für Steiners Konzept der «Weltanschauung» oder hat Steiner hier vagierende Vorstellungen rezipiert? Werden in der Konzentration auf Fichte andere Denker, etwa Nietzsche oder Eduard von Hartmann, nicht unterbelichtet? Wie ist das Verhältnis von Fichtes deutschem Nationalismus und Steiners Rassismus zu bestimmen? Gravierender scheint mir, dass der Wiener philosophische Kontext, in dem Steiner bis 1890 lebte, praktisch nicht vorkommt, weil Traub vor allem mit dem Material gearbeitet hat, das er als Fichte-Spezialist kennt. Wie etwa ist die Rolle von Johannes Volkelt einzuschätzen? Und trotz aller Relativierung in diesem Milieu die Goethe-Rezeption Steiners im Umfeld von Julius Schröer? Nur wenn man diese Beziehungen diskutiert, wird man die Frage, in welchem Ausmass Traubs Fokussierung auf Fichte zutrifft, differenziert beantworten können. Kritisch sehe ich auch Traubs Analyse der genannten Hinzufügungen und Veränderungen, mit denen Steiner nach 1914 seine Werke interpretierte. Ich vermisse hier die theosophischen/ anthroposophischen Kontexte, die Traub nur ausnahmsweise (etwa 905) einbezieht, obwohl Steiner darin damals seit anderthalb Jahrzehnten lebte und obwohl sie den entscheidenden Rahmen für die Revision seiner vortheosophischen Werke bildeten. Schliesslich hätte ich mir gewünscht, dass sich Traub mit der vorhandenen Literatur zu Steiners philosophischen Werken intensiver, teilweise überhaupt auseinandergesetzt hätte. Sie wird zwar in der Einleitung genannt, kommt aber dann nur vereinzelt zur Sprache; über weite Strecken bleibt Traub mit sich und Steiner allein.

In seinem vierten Teil schliesst Traub Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Steiners philosophischer Frühphase und der theosophischen Zeit an. Was wie eine Fortführung seiner bisherigen Überlegungen aussehen mag, ist bei näherem Hinsehen ein neuer Ansatz, das zweite Buch. Darin steckt ein hochambitionierter Anspruch, nämlich Steiners Konversion in die Theosophie zu erklären. Im Zentrum steht nun nicht mehr Johann Gottlieb Fichte, sondern sein Sohn Immanuel Hermann, der Philosoph eines «theosophischen » (im frühneuzeitlichen Sinn des Wortes) Spiritualismus. Der ältere Fichte, um den herum Traub bislang seine Historiographie gebaut hatte, gerät dabei in eine Nebenrolle. Diese Konkurrenz der beiden Fichtes wird bei Traub nicht thematisiert. Gleichwohl überzeugt mich Traubs Identifizierung I. H. Fichtes als wichtiger Figur für Steiners philosophisch- theosophische Biografie. Traubs Kritik an der bisherigen Steiner-Forschung, die den jüngeren Fichte ignoriert oder unterschätzt hatte, besteht zu Recht (902–904); der Forschung allerdings «Berührungsängste» zu unterstellen (975), ist eine überflüssige Psychologisierung. Ins Zentrum von Steiners Rezeptionsprozess stellt Traub I. H. Fichtes «Anweisung zum seligen Leben» von 1806. Dabei gelingen Traub valide Beobachtungen, wenn er etwa strukturelle Ähnlichkeiten oder gar Beziehungen von Steiners vortheosophischen Vorstellungen (in der Kosmologie oder in Erlösungskonzepten) zu den theosophischen Ideen Steiners plausibel zu machen versucht. Damit stärkt Traub die Fraktion derjenigen, die in Steiners Biografie um 1900 mehr Kontinuitäten als Brüche sehen.

Aber letztlich hat sich Traub von seinem wichtigen Fund verführen lassen, diesen viel zu stark zu machen und manchmal absolut zu setzen. Dazu muss er Steiner Lektüren unterstellen, die er nicht nachweisen kann, etwa von I. H. Fichtes «Anthropologie», bei der wir «davon auszugehen» (983) haben, das Steiner sie gekannt habe, um wenig später festzustellen, dass Steiner bestimmte Vorstellungen definitiv dort vorgefunden «hat», um kurz darauf wieder zurückzurudern, dass Steiner dieses Buch nur «gelesen haben dürfte » (984). Nun ist es durchaus möglich, dass Steiner diesen und andere Texte Fichtes rezipiert hat und dass sie ihn (stark?) beeinflusst haben, aber nachweisbar ist das momentan eben nicht.

Das dramatische Problem dieser Fokussierung auf den jüngeren Fichte ist allerdings die Überschätzung seines (wie auch des älteren Fichte) Einfluss im Prozess der Ausbildung von Steiners theosophischem Weltbild. Der jüngere Fichte wird zum Generalschlüssel für den Wandel des Philosophen zum Theosophen Steiner und darüber hinaus zum Lieferanten zentraler theosophischer Inhalte nach 1900. Von diesem habe Steiner etwa grundlegende Denkmuster für seinen Schulungsweg «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten» (1904/05) oder sein Buch «Theosophie» (1904) bezogen. All diese Überlegungen kann man als Thesen diskutieren, und das sollte man in Zukunft auch tun. Bei Traub hängen sie allerdings grossteils im luftleeren Raum, weil die Welt der Theosophie Blavatskys und Besants nur mit wenigen Bezugnahmen vorkommt. Traub verweist mehrfach auf die vorliegende Literatur, aber das kann die fehlende detaillierte Analyse nicht ersetzen; die reichen Hinweise auf theosophische Quellen in Steiners Werk nutzt er fast nicht. Die theosophischen Bücher, die Steiner gelesen hat, werden nicht einbezogen, Möglichkeiten, Steiners Ideen aus theosophischen Konzepten (auch) zu erklären, nicht einmal ansatzweise durchgeführt. Statt differenzierter Analysen flüchtet Traub in autoritative Semantiken. So sollen sich etwa für Steiners «theosophisch-anthroposophische » Vorstellungen «zweifelsfrei weit frühere Ursprünge nachweisen» lassen, Fichte habe eine «unüberwindliche Attraktivität » für Steiner besessen (972). Sodann soll Steiner mit Fichtes Instrumentarium auch die Differenzierung zwischen Theosophie und Anthroposophie vorgenommen haben, ohne dass Traub die teilweise zufallsgelenkte Benutzung dieser Begriff auch nur erwägt. Allenfalls für spätere Interpretation von Vorstellungen nach 1912 könnte man eine solche Differenzierung überlegen, aber für die theosophische Phase vor dem Ersten Weltkrieg halte ich eine solche Fixierung auf den jüngeren Fichte für abwegig – jedenfalls bleibt Traub den quellengestützten Beleg schuldig. Schliesslich soll Steiner von Fichte wichtige Merkmale der Reinkarnationsvorstellung übernommen haben, ohne dass Traub die sehr gut belegten Einflüsse des theosophischen Denkens in seine Überlegungen einbezöge. Nochmals: Alles, was Traub anführt, ist weiterer Überlegungen wert, aber mit seinem Reduktionismus entwertet er seine Überlegungen.

In diesen Kontext montiert Traub Überlegungen zur religiösen Sozialisation Steiners, der katholisch geprägt sei (793–803). Dieses Kapitel besitzt bei Traub die Funktion, seine Kontinuitätsthese zwischen dem vortheosophischen und theosophischen Steiner zu stärken. Irritierenderweise verzichtet Traub dabei auf eben die historisch-kritische Reflektion, die er zuvor angewandt hat. Eine zentrale Rolle spielt für ihn Steiners Autobiografie aus den Jahren 1923/25, in der Steiner von einer tiefen katholischen Prägung berichte (794). Aber diese Ausführungen Steiners sind, um Traubs Worte zu nutzen, eine «retrospektive Interpretation», die nicht nur in sich widersprüchlich, sondern auch mit früheren Äusserungen Steiners nicht in Deckung zu bringen ist. Steiners Autobiografie ist eben Dichtung und Wahrheit. Wenn Traub dann noch mit Bezug auf karge Informationen zum Leben von Steiners Vater, der als Angestellter in einem Kloster gearbeitet hatte, dem Sohn Rudolf eine «Affinität» zum monastischen Leben (953) oder eine «Tendenz zum Klösterlichen» unterstellt (972), ist er im Reich der Spekulation gelandet. Ich lese jedenfalls Steiners religiöse Sozialisation ganz anders – aber das ist nicht der Gegenstand dieser Rezension.

Bei allen Differenzen zu einigen Überlegungen Traubs: Sein Buch ist der Treibstoff der Wissenschaft. Pointierte Thesen können der Ansatzpunkt sein, Dinge schärfer zu sehen oder sie überhaupt erst zu entdecken. Ob meine Kritiken am Ende Bestand haben, muss die weitere Debatte zeigen. Traub jedenfalls verdanken wir ein anregendes, grosses Kapitel der Steiner-Forschung.

Zitierweise:
Helmut Zander: Rezension zu: Hartmut Traub, Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners. Grundlegung und Kritik, Stuttgart, Kohlhammer, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 775-777.

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